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Hans Brandenburg1

Alexander Sacharoff (1913)

Als Alexander Sacharoff im Jahre 1910 zum ersten Male öffentlich tanzte, erregte er ein leidenschaftliches Für und Wider der Meinungen. Unter den Ablehnenden befanden sich viele, die sich von einer allzupersönlichen Antipathie fortreißen ließen und oft auch kein Verständnis für die künstlerischen Aufgaben des Tanzes besaßen, und die eigentliche Kerntruppe der Anerkennenden bestand wohl zumeist aus slawisch-jüdischen Kunstjüngern von einer maß- und verantwortungslosen, auf Extreme eingeschworenen Gläubigkeit. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß unter den Zuschauern nicht auch viele waren, deren Lob und deren Tadel mehr oder weniger wohlbegründet sein mochte.

Auf der Rückseite des Programms standen Bemerkungen Sacharoffs, in denen für die erst neu zu schaffende Tanzkunst als einziges Vorbild die Griechen anerkannt wurden und als vorzüglich befähigt für die Ausübung dieser Kunst weder der Mann noch das Weib, sondern nur der Jüngling bezeichnet war, weil er ein Wesen sei, "das noch zwischen den beiden steht, noch gleichsam die Möglichkeiten der beiden Geschlechter in sich vereinigt" und dessen Tanz reine Kunst, ohne direkte sinnliche Wirkung, sein kann. An der Erscheinung des Tänzers, der so schrieb, fiel zunächst der Kopf auf: das auf russische Art halblang getragene, durch ein Stirnband zusammengehaltene, hinten im Nacken und vorn über den Augen gerade abgeschnittene schwarze Haar, die kräftige, unten ein wenig einwärts gedrückte Nase und übermäßig breite Lippen. Bekleidet war er mit lockeren und gerafften Gewändern, die den Körper zum großen Teil freiließen. Arme und Beine waren ebenso wie das Gesicht weiß gepudert, und trotz der sehr durchgebildeten Muskulatur hatte die Erscheinung nichts männlich Kräftiges, sondern eher etwas Weichliches. Eine Streichmusik, unterstützt von Harfen und Orgel, erklang, und die Gestalt, vor einem schwarz wallenden Hintergrunde, war auf reliefartige Wirkungen bedacht, sie stellte Daphnis, Narziß und Orpheus dar, sie schritt im Mönchsgewande nach Tönen der italienischen Renaissance betend über die Bühne. Die Anlehnung an die Antike, das unmittelbare Zurückgehen auf Werke griechischer Plastik, erinnerte an die Duncan, und wie der ihrige so war auch dieser Tanz mehr eine Bilderfolge als Bewegung. Aber er vermied durchaus ihr bacchantisches Hüpfen, vielmehr vollzog sich alles in einem getragenen Tempo, in einer langsamen Gestik, der zuliebe die Musik Thomas von Hartmanns eigens gebildet zu sein schien, und an Stelle des intellektualen Dilettantismus der Duncan trat hier eine intellektuale, krampfhaft ehrgeizige Technik, die jede Pose höchst bewußt bis ins Einzelne durchbildete. Die Bewegungen ergaben kein Ganzes, keine Erfindung, kein sinnfälliges Thema, keine sich aufbauende Melodie, der Tanz zerfiel in lauter Einzelbewegungen, die an sich sehr viel Muskelspiel enthielten und noch mehr bloße Gruppierung der Glieder. Eine Tanzstudie ohne Musik ließ dann das immer wiederholte sichtbare Spannen und Entspannen der Muskeln, das fabelhaft geübte "Fluten" der Arme, die dekorativen Spreizungen der Finger vollends zum Selbstzweck werden.

Es kann hier nicht die Aufgabe sein, rein subjektive Eindrücke wiederzugeben. Aber wodurch und warum sich mancher damals bis zum Ekel abgestoßen fühlte, das soll hier ohne Schärfe und nur soweit, als es allgemein verständlich ist und unserer Sache dienen kann, kurz dargelegt werden. Wer der Tanzkunst ein ernstes Interesse entgegenbrachte, der hatte auch schon über den männlichen Tanz nachgedacht und in ihm eine Ergänzung des weiblichen ersehnt, nämlich eine körperliche Kunst, die Herrschsucht, Willenskraft, Tapferkeit und Begehren darstellt. So wenig der Tanz als Kunst die Erregung sinnlicher Empfindungen zum Zwecke haben kann, so sehr ist er doch, selbst in seiner geistigsten Form, auf dem geschlechtlichen Instinkt als auf seiner starken und breiten Basis aufgebaut. Dies kann nur von Ignoranz oder von unreiner Heuchelei oder von sinnenfremder Formalästhetik geleugnet werden, aber es braucht in unserem Falle nichts weiter zu bedeuten als die Forderung, daß der männliche Tanz unbedingt von der Schönheit und Würde des männlichen Geschlechts getragen sei. Das Endziel der Kunst kann immer nur die Kunst sein, doch der Weg zu ihr führt durch die Wertbegriffe aller menschlich-sittlichen Forderungen und Voraussetzungen, als deren höchster und reinster Ausdruck sie, von dieser Seite aus gesehen, erscheint. Wenn wir jede Kunst, und auch die Tanzkunst, mit Recht nur als gesetzmäßige Form betrachten, so kann uns diese Betrachtungsart wohl über die mit dem Tanz zusammenhängenden Zeitfragen hinaus-, aber nicht an ihnen vorbeiführen. Diese Fragen jedoch erstrecken sich auf Läuterung, nicht Schwächung, unserer uralten Instinkte, und wir möchten deshalb den Tanz nicht einer überfeinerten intellektuellen Selbstbefriedigung, nicht einer großstädtischen Scheinkultur, die nur Spiegelung toter Vergangenheiten ist, nicht rasselosen Grenz-, Zwischen- und Niedergangstypen, nicht einem unfruchtbaren Ephebentum anheimfallen sehen. Obwohl wir garnichts von dem outrierten Betonen des "Gesunden" halten und noch weniger in gewissen bedenklichen Erscheinungen des modernen Lebens gleich Pestbazillen fürchten, wie es manche Gegner von Sacharoff damals taten, so konnte uns doch hier eine sogar in Worten proklamierte Zweigeschlechtlichkeit Widerwillen erregen. Zummindesten [sic] wirkte hier ein Können, das nicht Kunst wurde, als Selbstzweck und darum, weil es, statt bloße Akrobatik zu sein, Inhalte vorzutäuschen schien, als Affektation. Das muß gesagt werden, selbst wenn damit dem Streben dieses Tänzers Unrecht geschieht.

Zwei Jahre später gab es eine Gelegenheit, Sacharoffs Weiterentwicklung kennen zu lernen, und zwar unter ganz besonderen Umständen, die ihm sehr günstig waren und die ihres lehrreichen Humores halber geschildert werden sollen, obwohl damit in dieser Chronik der ernsthaften modernen Tanzkunst einer sehr wenig ernsthaften Modegröße die unverdiente Ehre einer Erwähnung widerfährt. Alexander Sacharoff hatte sich nämlich, Gott weiß aus welchem Grunde, mit Rita Sacchetto zu einer Reihe gemeinsamer Tanzabende zusammengetan. Diese Tänzerin wurde vor Jahren durch den Beauté-Maler Lenbach entdeckt, und zwar zu der Zeit, als der deutsche Bürger in seinem Bildungsdrange allen guten Willen zeigte, sich für die vielbesprochene Neubelebung der Tanzkunst zu interessieren, aber die Duncan nicht mit dem Renaissancestil seiner Wohnung in Einklang bringen konnte. Da schlug die Sacchetto die Brücke. Sie leitete aus dem Beispiel der Duncan, wie sie es verstand, nur das dreifache Recht ab, temperamentlos, unmusikalisch und ohne tänzerisches Können sein zu dürfen, aber sie berücksichtigte gleichzeitig die ganze Prachtliebe, die der steigende Wohlstand seit dem großen Kriege gezeitigt hatte. Da sie sich außerdem infolge ihres Äußeren sehr dazu eignete, durch die illustrierte Postkarte verbreitet zu werden, gelang es ihr, die hübsche Sitte, in Familienkreisen "lebende Bilder" zu stellen, zum Tanz zu erheben, bühnenreif und sogar in ganz Europa hoffähig zu machen. Doch kehrte sie immer wieder zu der Stätte ihrer ersten Triumphe, zu dem prunkvollen Saale des Münchener Künstlerhauses, zurück, in dem es so angenehm nach den Kunstmärchen aus uralten Zeiten muffelt. Hier hatte sie zum ersten Male in kostspieligen Kostümen klassische Gemälde getanzt, nach Chopinscher Musik sich von vorne und von hinten gezeigt, in falsche Blumen gelächelt, sich gedreht und sich gefächelt und mit Kastagnetten in den Händen am Schluß des Programms urplötzlich südländisches Feuer produziert. Und hier trat sie auch mit Sacharoff auf – in Pantomimen und zwischen echten Zypressen, die, wie in der Zeitung stand, von den Ufern des Gardasees stammten. Die Phantasie "Potiphar" führte sie zwar alleine aus, und bei dieser getanzten oder vielmehr nichtgetanzten Plüschdraperie rührten ihr Fächeln, ihr Pfauenschweif, ihr Augenbrauenzucken, ihre sich brüstenden Reize und ihr Schmollmund keinen Josef. Aber bei dem Renaissance-Kinodrama "La Somnambule" fehlte der Buhle nicht, und auch nicht bei den Schäferszenen nach Boucher. Die Kritik fand, daß der weibliche Part männlich und der männliche weiblich wirkte, und in der Tat bewegte sich Sacharoff mit wunderbarer Leichtigkeit, auch weinte er einmal ob seiner Partnerin in die Hände, ohne daß wir ihm wegen dieses Getues in einer offenbar nicht von ihm erfundenen schlechten Komödie zu nahe treten wollen. Viel wichtiger ist es, daß das "Gegenbeispiel" der Sacchetto seine äußerste Beherrschung des Körpers in volles Licht rückte, daß er selbst in diese alberne Theaterei den organischen Fluß eines körperlichen Geschehens brachte, welches alle Bewegungen miteinander und mit dem Gewande verschmolz, während das, was bei seiner Partnerin Bewegung sein sollte, nur in zusammenhanglosen und eitlen Attitüden einer kostümierten Gliederpuppe bestand. Früher hatte Rita Sacchetto ihren Pierrottraum nach Schumanns "Papillons" mit einem Papierschmetterling als Partner gemimt. Es sollte das tragische Verhängnis ihrer ruhmreichen Künstlerlaufbahn werden, daß sie dieses Stückchen Papier nun mit einem lebenden, und solchen lebenden, Partner vertauschte. Dadurch erhielt die harmlose Szene eine furchtbare realistische und symbolische Wirklichkeit. Pierrot flegelt sich auf seinem Polster, er sucht schlaftrunken eine Pfauenfeder auf seiner Nase zu balancieren, aber es ist zu spät, um die Gesetze der Balance noch kennen zu lernen, er strampelt vergnügt mit den Beinen, aber das vergnügteste Strampeln ist noch lange kein Tanz, und die gewollte Lustigkeit seines physischen Katers wirkt wie der ungewollte Weltschmerz eines moralischen, er krault sich hinter den Ohren, da das verwünschte Insekt ihn am Kopfe kitzelt. Und dieses Insekt? Sacharoff hat einen violetten Turban über seinem weißen Gesicht, Schleier umflügeln seine Arme, eine Pumphose aus Schleiern fließt an den Beinen bis zu den Füßen hinunter. Über weitere Einzelheiten des Kostümes kann man sich keine Rechenschaft ablegen, es wirkt nur mit dem Tanz und selber nur als Tanz, es ist von jener letzten unerhörten Sicherheit des Geschmacks, wo die Kunst in einem höheren Sinne wieder Natur wird2 und weder Kern noch Schale hat. Der Tänzer schwebt über die Bühne, er ist da und nicht da, er ist überall und nirgendwo, und seine Arme und Beine sind nur noch ein Flügeln, sie sind selber zu den sie bedeckenden Schleiern geworden. Wenn je die Kunst des Balletts eine Kunst war, in dem Sinne, daß man ihre Entmaterialisierungen atemlos erlebte, so kann sie nur wie dieser Tanz Sacharoffs gewesen sein. Das ist freilich nicht mehr Griechenland, aber es ist auch nicht bloße Akrobatik; es ist geistgewordener Intellekt, und dieser, der meinetwegen ein Destillat modernster europäischer Überkultur sein mag, trägt einen glänzenden Sieg über den kulturlosen Snobismus der Gründerjahre davon, als dessen Verkörperung die Sacchetto hier einzig in Frage kam, und je mehr wir ihn als Entstofflichung, als Geist bewundern, desto mehr wird die Sacchetto nichts als Stoff. Auch bei ihr ist freilich das Kostüm – das Kostüm im weitesten Sinne – Eins mit dem Körper geworden. Denn ist es nicht ein Polster, auf dem Pierrots Traum zu Ende ging? Ja, es blieb nur ein Möbel übrig.

Am bewundernswertesten waren zwei Solotänze Sacharoffs, aber sie sollen, wie es sich für sie gebührt, im Zusammenhang des neuen Programms besprochen werden, das er kurz darauf alleine tanzte. Um dieses neue Programm des Künstlers richtig zu verstehen und es mit der Erinnerung seines ersten Auftretens und aller ihm gegenüber lautbar gewordenen Neigung und Abneigung zu vermitteln, müssen wir uns seinen menschlich-künstlerischen Typus möglichst deutlich machen. Die Gesellschaft empfand diesen Sacharoff vor seinem ersten Auftreten wohl nur als unwahr, als affektiert, als einen lächerlichen Charlatan und Poseur, und mußte ihn so empfinden. Wie aber erscheint er, wenn wir vernehmen, daß ihm seinerseits die "Natürlichkeit" der Gesellschaft Unnatur war, ihr Gebaren und ihre Kleidung für ihn selbst ein Gewissenszwang? Wie muß einem Menschen zu Mute sein, dem Haltung und Gebärde von früh auf das einzige Organ, sich auszudrücken, ist, der aber dieses Organ durch unseren ganzen mitteleuropäischen Habitus unterdrückt und gefälscht sieht, der darum schon unseren modernen Straßenanzug als eine Art Fluch empfindet? In frühen Jahren wollte Sacharoff ins Kloster gehen, nicht einer frommen Komödie halber, sondern weil dieser Ort das letzte Refugium einer Zeit ist, die auch das Leben als Form begriff, die einer besonderen Art von Menschen ermöglichte, selbst im Alltag das Profane auszuschalten, oder wenigstens, auch alles profane, alles nützliche Gebaren symbolisch zu durchleuchten. Aber Sacharoff war doch ein zu moderner und zu intelligenter Mensch, um einem überlebten Kastenwesen seine Existenz zu opfern, die, wenn sie einen eigentlichen, einen schaffenden Wert haben sollte, eben doch nur in einer Gegenwart fruchtbar werden mußte. Seine Leidenschaft, in der äußeren menschlichen Erscheinung für seine eigenste Person eine innere Aufgabe zu erblicken, das verschwiegene Übereinkommen des vergesellschaftlichten Europas, sie nur als unwesentliche, nützlich-glatte Oberfläche zu behandeln, nicht mitzumachen, führte ihn, der rein triebhaft freilich schon von Kindheit an getanzt hatte, zum Problem der Tanzkunst. Und was er sich infolge des Mangels an technischen Voraussetzungen als Ausübender noch nicht getrauen durfte, darüber versuchte er sich in stillen Stunden wenigstens auf dem Papiere Rechenschaft abzulegen, in Zeichnungen, die eine merkwürdige Kombination von graphischer und figuraler Darstellung sind. Er nahm das viereckige Blatt als Bühnenboden an und fixierte darauf in Flächenprojektion die Bewegungsreihen von Tänzen. Das Problem ist hier schon mit vollstem bewußten Ernst angefaßt. Dadurch, daß er auch die Wiederholungen von Bewegungsmomenten, also genau dieselben Bilder mehrmals, einzeichnet, kann er den Rhythmus darstellen; da die fortlaufende Gestaltenreihe aber immer ein fortlaufendes Schreiten bedeutet, merkt er die Bewegungen auf der Stelle, welche dies Schreiten unterbrechen, als Figuren-Rosetten am Rande an. So wenig dies Verfahren natürlich das tausendfache Spiel der Bewegung wiedergeben, so wenig es Tanz ersetzen oder auch nur indirekt als Vorstellung vermitteln kann, so war es doch für ihn ein bedeutendes Studienmittel, und da es das Nacheinander der Tanzbewegung, das im architektonischen Sinne immer auch ein Gleichzeitiges sein muß, eben durchaus als Gleichzeitiges festhält, so konnte er sich hier über die struktiven Gesetze des Tanzes Rechenschaft ablegen. Er konnte ausprobieren, wie ein Anfang, wie eine Mitte, wie ein Schluß auszusehen hat, wie die Bühnenebene auszunutzen ist, wie sich das proportionelle Verhältnis der Bewegungsreihen zu ihr und zueinander gestalten läßt, welche Silhouetten einer Bewegungsreihe sich durch die verschiedenen Senkrechten, Wagrechten [sic] und Schrägen der Körperhaltung herausarbeiten, was für Überleitungen zwischen den Einzelmomenten der Bewegung möglich und notwendig sind und erst die Bewegung schaffen. Aber auf die Dauer konnte diese trotz ihrer Sichtbarkeit im Grunde abstrakte und theoretische Beschäftigung Sacharoff nicht befriedigen. Sein merkwürdiger Trieb verlangte nach Experimenten in sinnlicherem Material, und so sehen wir ihn – ein Schauspiel für die Decadenz-Witterer! -, wie er mondäne Puppen in Wachs modelliert und eigenhändig bekleidet, indem er mit der Nadel ihre Seidenhüllen, ihre Röckchen und Rüschchen schneidert. Jedenfalls läßt sich nicht leugnen, daß er auf diese Weise die Kostümfrage im wahrsten Sinne von der Pike auf kennen lernte. Aber damals hatte er längst schon begonnen, seinen Körper zum gefügigen Ausdrucksmittel seines künstlerischen Triebes heranzuzüchten, und er, der die Duncan leidenschaftlich verehrte und doch gleichzeitig der empfindlichste Gourmand des Artistischen in der Kunst war, besuchte nacheinander zwei Ballettschulen, eine in Paris und eine in München. Innerlich lachte er vielleicht seine Ballettmeister aus, aber äußerlich ließ er sich einstweilen ruhig von ihnen auslachen, die es wohl für einen Wahnwitz hielten, daß jemand als erwachsener Mensch eine akrobatische Kunst erlernen wollte, die von Kindesbeinen an geübt sein muß. Doch Sacharoff ließ sich aufs Streckbett dieses Körperdrills spannen, bis ihm die Tränen übers Gesicht liefen und er mit vollbewußter Absicht nacheinander jeden Muskel und jede Sehne bis zu schmerzhaftesten Krisen forciert hatte. Und als man ihm unter aufrichtiger Bewunderung die Ehre der Aufnahme ins Ballettkorps erweisen wollte, da war für ihn der Moment gekommen, Danke zu sagen. Er hatte hier nichts mehr zu suchen, ihm war die Ballettschule nur eine Gelegenheit zur systematischen Durchbildung des Körpers gewesen, mit deren Künstlichkeit er aber nun nicht in der lächerlichen Unnatur der Wadentriller stecken bleiben, die er vielmehr zur gesteigerten Natur, zur Kunst, umformen wollte. Das Ballett war ihm nichts als ein Training, und mit den Waffen, die er sich bei ihm geholt, hat er es besser geschlagen als die Duncan mit den ihrigen.

Der jammervolle Zustand des heutigen Balletts besteht darin, daß es das ganze Problem der Bewegung fälscht und entstellt. Und doch entrang Sacharoff dieser Schule die Möglichkeit, das Problem am eigenen Leibe zu erleben, den Weg der Technik als einen Weg zum Können zu beschreiten. Bei seinem schrittweisen Vordringen zerlegte er sich nun die Aufgabe, und seine ersten Tänze zerfielen nur daher in Einzelbewegungen, weil er zunächst die Einzelbewegung durchgestalten wollte. Sie waren durchaus Übungsstudien, ausgeführt mit dem sehnsüchtigen Blick auf die Schönheit der Antike, und nur weil diese Studien mit so viel Aufwand von nichtüberwundener Technik und mit so viel oft feminin anmutendem Raffinement des dekorativen Geschmacks verbunden waren, konnten sie verletzen, während ihr analytischer Charakter als steril erschien und den skeptischen Zuschauer ermüdete. Und es wirkte selbstgefällig, was in Wirklichkeit selbstlose Arbeit war, wenn sich Sacharoff sogar auf dem Podium immer wieder fragte: Was ist ein Schritt? Ein Schritt als Kunstmittel? Nicht nur mein Fuß muß von ihm wissen, sondern alle meine Glieder, er muß Bewegung sein, die auch die entspannten Teile durchfließt, die vom Scheitel bis zur Sohle ein Ganzes bildet. Darüber jedoch zerfloß ihm wieder, im Großen betrachtet, das Ganze, und was sich rundete, rundete sich für sich und nicht als Glied einer Kette. Wohl schwebte ihm das Ganze vor, und da er es nur aus der Bewegung erzwingen wollte, mußte selbst sein Komponist nicht nur aus Bewegungsmöglichkeiten heraus, sondern nach Sacharoffs speziellen Bewegungen arbeiten, damit die Töne etwas wie ein begleitendes Abbild des Tanzes seien. Und noch heute ist vielleicht der Tanz ohne Musik, die rythmisierte [sic] Stille, der durch stumme Bewegung ausdrucksvoll belebte Raum, sein letztes Ziel.

Aber Sacharoff ist längst aus einem Zergliederer zu einem Zusammengliederer geworden. Und ihm, dem die Empfindung allein nichts bedeutet, ist doch die künstlerisch gemeisterte Empfindung alles. Nun kann er sich auch seiner Intuition überlassen, und er tut es vielleicht am meisten in dem "Cake Walk" nach Debussy. Das scheinbar Strukturlose dieser Musik wird in der Bewegung zu einem ganz sublimierten Rhythmus, und ein Flackern des Körpers, das besonders in dem nervösen Huschen der Hände liegt, erzeugt einen Eindruck von grotesker Niggerhaftigkeit, die aber nicht als Charakterdarstellung wirkt, sondern als eine übernächtige [sic] Vision von halb müder, halb toller Unrast. Das ist aber, über das Impressionistische hinaus, Bewegung an sich, objektives Dasein in der Form, geworden, und das "Moderne" daran darf uns nicht zu einem Mißverständnis Sacharoffs führen, der nicht nach dem stimmungsvollen Gelegentlichen, sondern nach dem typischen Allgemeinen strebt, nach einem durchaus gehaltenen Stil. Neben dem Cake Walk nach Debussy steht ein Rigaudon nach Rameau. Hier leiht die Musik einer anderen Zeit nun einen stark figuralen Rhythmus her, und dies Figurale führt zu fest und zierlich geschwungenen Bewegungen, die ein Stab in der Hand unterstützt, als ganz prätentionslose Reminiszenz an die galante Vergangenheit. Wohl ist Sacharoff ein Erfühler vergangener Formen, aber diese Formen werden ihm Form, und so bleibt bei ihm etwa das Barock niemals Historie. Ein schweres Brokatgewand ist ihm eine Welt für sich, in der es auf eigene Weise zu leben gilt: breit ausladende Hüftbewegungen bauschen es seitlich, und in den Armen befreit sich das Gewicht des Stoffes nur soweit, als es bald zur Steigerung, bald zur Auflösung jenes wuchtigen Ausladens nach der Seite notwendig ist. Da aber belastete Bewegungen nicht durch Wechsel wirken können, so wiederholt sie Sacharoff immer wieder, wobei er nun auch den ganzen Körper seitlich fortbewegt, und das Nachdrückliche der schweren Geste hat zur Folge, daß sie nach ihrer Vollendung gleichsam im Raäume stehen bleibt und zuletzt eine architektonische Reihe von großgebuchteten Schnörkelfiguren die ganze Breite der Bühne füllt. Eine Schubertsche Musik dagegen wird ihm zu leichtem Lauf und Sprung, der das Thema sinnfällig und mutwillig markiert. Nur darf man Sacharoffs Wesen nicht in irgendwelcher Verwandlungskunst suchen. Er bevorzugt auch heute noch die getragenen Tänze nach frühitalienischer Musik, aber was ist aus ihnen geworden. Wohl ist es noch immer ein langsames Schreiten, ein Knien und Beten, aber dies alles zerfällt nicht mehr in Posen, in Einzelbewegungen, sondern jedes Einzelne leitet ins Ganze, es geht aus ihm hervor und kehrt zu ihm zurück, es schließt sich zusammen, wie sich Anfang und Ende jedes dieser Tänze zusammenschließen, und wenn man den Anteil prüft, den das Kostüm gleichfalls als notwendiger Koeffizient daran hat, so bleibt nirgendwo mehr etwas Schmückendes, nirgendwo etwas Dekoratives, nirgendwo ein Beiwerk ausstehen, sondern es ist ein Organismus zustande gekommen, dessen äußere Schönheit auf innerer Geschlossenheit beruht. Wenn wir in dem Gefühl des Ganzen, dessen seelischer Wert in einer asketischen Andacht und Heiterkeit besteht, noch Bewunderung zollen mögen, so kann sie nur diesem Körper gelten, der noch in der langsamsten Bewegung die Kraft ruhig und gleichmäßig verteilt und seiner selbst, seiner Empfindung und seines Lebens im Raume jeden Moment völlig sicher ist. Als Beispiel dafür mag sein reinster und vollendetster Tanz gelten: "Florentinischer Frühling" nach Händels "Laß mich mit Tränen". Das ist nicht mehr Bild und Relief, sondern Ruhe im wechselvollen Spiel aller Dimensionen. Die Bewegung ist wie ein einziger stillströmender Atem der Zeit im Raume, aller Ausdrucksgehalt löste sich im rein Funktionellen des Muskelspiels auf, so daß dieses allseitig durchseelt und selbst der Blick des Auges ein Reflex des ganzen Körpers ist. Die Musik durchdringt den Organismus, sie verteilt sich in ihm und dadurch im Gewande, das sich spreitet und wieder fließt, sie wird nicht "dirigiert", sondern sie lebt im Rumpfe als in einem Zentrum, aus dem sie in die Glieder fließt und in das sie zurückströmt, und wenn das Thema in die gehobenen Arme steigt und dem Schlußton eine liturgische Markierung gibt, so biegt sich die Hand mit einem letzten genau abgewogenen Rest von Kraft fest und leicht um. Solch feierliche Beherrschung der Maße und des Gleichgewichts, die wir mit unserem eigenen Körper, welcher dabei eine Vorstellung unserer Seele wird, mit erleben, weckt in uns den Frieden eines gelassenen Vertrauens, das von harmonischer Schönheit ausgeht.

Gewiß, wir werden nicht immer warm vor Sacharoffs Kunst und möchten nicht ohne weiteres glauben, daß die Kühle, die wir empfinden, jene letzte Bändigung der Leidenschaften durch die Form ist, die wir als Stil bezeichnen. Wer aber nicht einfach leugnet, daß ein Wille zum Stil Wert hat – einem Klassizismus gegenüber würde man ja den Wert dieses Willens gerne leugnen -, der wird dieser Kunst nicht ihre Art von Größe abstreiten können und wollen. Und wenn wir Sacharoff schon auf sein Gebiet folgen, so verlieren die Begriffe "männlich" und "weiblich" ihre Bedeutung; sie können ja in der Kunst überhaupt sehr leicht zu zweifelhaften und irreführenden Begriffen werden, da die männlichen Naturen sehr oft "weibliche", die weiblichen aber "männliche" Kunst schaffen und das Größte nur dem übergeschlechtlichen Reinmenschlichen und Reingöttlichen dient. Jedenfalls beruht Sacharoffs Männlichkeit in der geradezu asketischen Hingebung an seine Aufgabe. Sie beruht in der zielsicheren Besonnenheit, mit der er alle Elemente des Tanzes prüft, durchdenkt und anwendet. Seine theoretische Klugheit und sein technischer Ehrgeiz haben ihm den Rhythmus als körperliches Erlebnis nicht gestört, sondern gefördert. Er hat sich mit einem Willen, den die Reflexion nicht schwächte, sondern nur klärte, den formschaffenden Gesetzen seiner Kunst von allen Seiten genähert, er hat sie zunächst aus den Bedingungen der Bewegung allein abgeleitet und sie doch schließlich verwirklicht, indem er sie an die Musik band, indem er sich als Tänzer durch die Musik befruchten ließ wie der Liederkomponist durch das Wort, und hat doch einen Ausblick auf den "absoluten" Tanz eröffnet. Und indem er körperliche und musikalische Rhythmen vollendet vereinigte, waltete dabei insofern etwas Männliches, als die Leichtigkeit, mit der es geschieht, zugleich jenen wunderbaren kraftvollen Nachdruck enthält, welcher der männlichen Muskulatur eigen ist. Wir bewunderten bei Ruth St. Denis jene wogenden Bewegungen, die sich durch die ganzen Arme bis in die Spitzen der Finger fortpflanzten. Wir brauchen nur dieselben Bewegungen bei Sacharoff, der sie ebenso meistert, anzusehen, um die ganz andere Welt des Ausdrucks kennen zu lernen, durch die der männliche Körper den Tanz bereichert.



1 Hans Brandenburg: Der moderne Tanz, München 1913, S. 121-130
2 was übrigens auch auf Sacharoffs Kunst des Schminkens Anwendung verdient [Anm.v. H.B.].

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