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Rudolf von Delius1

Clothilde von Derp (1910)

Wieder eine neue Tänzerin an den Plakatsäulen Münchens; Niemand [sic] kennt sie (der Name soll ein Pseudonym sein); man hat keine allzu großen Hoffnungen. Der Reklame-Tamtam rührt sich gleichmäßig für Alles. Dennoch – aus Pflichtgefühl – geht man hin, setzt sich auf einen Stuhl und wartet.
Musik spielt, und es teilt sich der Vorhang. Ein ganz junges Mädchen tritt auf, schlank und braun. Sie reckt die Arme (wie die Griechen beteten) und schreitet langsam. Feierlich, als flehte sie zu den Göttern der Zukunft – und doch stolz, als hielte sie schon das Kostbarste fest in Besitz. Die Melodie wird bewegter. Kommt nun die Freude, die hüpfende Mädchenfreude? Wohl wird der Sprung gewagt mitten in die Luft, aber sofort hemmt eine Bangigkeit: die schwere Herbe des jungen Blutes, Unmut gärenden Frühlings. Und dicht daneben Bewußtheit, Überreife der Gedankentriebe; Reflexion, die das Tempo müde macht, bändigt, stilisiert: da ist dann die Freude nur noch ein zerbrechlich gläsernes Spielzeug, vorsichtig mit spitzen Fingern zu greifen. Und die so leicht wehe tun kann. Denn schon wieder reckt sich das suchende Kinn, und die Hände tasten wie an schwere Türen, die sich öffnen sollen ins Leben der Frau. Doch noch hat das Mädchen sein Recht: der Triumphmarsch der Jugend ertönt, der Siegerschritt lachenden Lebens. Und nun darf der Leib sich auch zierlich biegen, aber mit halbgeschloßnen Augen genießt sich hier selber, was sonst wohl den Mann zu locken erfunden wurde. Denn im Kreise dieser Persönlichkeit ist noch kein Fremder zugegen. Heilig und rein schließt sich der Ring um das dämmernde Ich. Und wir sehen hinein in dies Innenreich: in das junge Quellen und Drängen werdender Gestalten: da ist noch so eckig und zerbrochen das Leid, noch so unreif-bitter der Schmerz des Sturmes, noch so abstrakt kindlich die Sehnsucht, und nur schamhaft wie im Traum regt sich Süßigkeit der Liebe. Denn sie gärt erst als steigender Saft im Körper und hat noch keine Erfüllung und keinen Sinn.

Eine Mädchenseele offenbart sich und wird restlos gestaltet in Körperform. Darum ist es töricht, hier von Mängeln zu sprechen: alles ist organisch, rund, lebendig. Das Andeuten und Suchen, das Scheu-Unfertige ist ein notwendiger Teil dieser Knospenwelt. Man kann gar nicht wissen, ob die volle Blüte einmal schöner sein wird. Darum freuen wir uns an dem grazilen Reiz der jungen kantigen Äste, an der Herbheit sehnsüchtigen Wachsens und an den kleinen braunen Deckblättchen, glänzend von schwerem Saft. Selbstbewußt und doch fröstelnd steht so das Bäumchen im bleichen Licht – noch von keiner zudringlichen Sommerfliege umschwärmt.
Diese Clothilde ist endlich einmal eine Tänzerin, die völlig eigenes Erleben formt, die sich von keinerlei historischem Kostüm gängeln lässt, die aus dem Reichtum ihres kleinen Herzens eine neue Welt entfaltet.
Darum freuen wir uns, freuen wir uns!!



1 Erstveröffentlicht in: Masken. Wochenschrift des Schauspielhauses Düsseldorf. Jg.5, Ausgabe v. 23.5.1910, S.615–616. Rechtschreibung nach: Rudolf von Delius: Mary Wigman, Dresden 1925, S.14–15 (dort um den ersten und letzten Absatz gekürzt).

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