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Alexander Sacharoff :

Bemerkungen über den Tanz (1910)

Wer den Tanz als eine selbständige Kunst betrachtet und wer der Meinung ist, dass diese Kunst in unseren Tagen nicht existiert, sondern erst geschaffen werden muss, der wird sich fragen, von welchen Grundsätzen man dabei ausgehen und auf welche Vorbilder man zurückgreifen darf. Es scheint mir, dass solche Vorbilder nur in dem griechischen Altertum gesucht werden können, bei einem Volke, das eine natürliche und vollkommene Körperausbildung wie kein anderes besass und pflegte, bei einer Kultur, der das Leibliche und das Geistige nicht ein Getrenntes war. Von den Griechen der klassischen Zeit wissen wir, dass den kunstvollen Tanz nur immer die Männer und die Jünglinge übten, wir hören später von berühmten Tänzern, welche die schwierigsten, ja geistigsten Gegenstände durch Mimik und Rhythmik darstellten. Die Frauen kannten nur spielende Reigentänze oder bacchantisch ungezügelte Bewegung, das Volk der Hetären pflegte den erotischen Tanz. Die früheren Griechen scheinen nur den Tanz der Jünglinge oder der Priester gekannt zu haben – ich erinnere an die wundervollen Tänze im 8.Gesang der Odyssee –, von einem tanzenden Weibe ist im ganzen Homer nicht die Rede. Die Griechen hatten hierin den feinsten Takt. Es scheint mir nämlich, dass für den Tanz als reine und eigene Kunst weder der reife Mann noch das Weib vorzüglich geeignet sind, sondern der Jüngling als ein Wesen, das noch zwischen den beiden steht und noch gleichsam die Möglichkeiten der beiden Geschlechter in sich vereinigt. Ich glaube, dass eine direkte sinnliche Wirkung in dem Tanz ebenso ausgeschlossen sein muss, wie in jeder anderen Kunst, für die das Temperament nur immer soweit in Betracht kommt, als es verarbeitet und in Kunst verwandelt ist. Die aufregende Wirkung ist nicht die reine Wirkung. Ich halte darum auch die bekannten gesellschaftlichen, die nationalen und die Kostümtänze nicht für reine Kunst, da sie ein künstlerisches Gefühl und eine künstlerische Idee nicht unmittelbar und rein ausdrücken, sondern an sich selbst nur eine Form sind, in der sich das Temperament vieler Menschen äussern soll und äussert. Das Drehen und Wenden und jedes Berauschende scheint mir im reinen Tanz denn auch womöglich zu meiden oder nur mit Vorsicht als ein Motiv unter vielen anwendbar zu sein.
Der Tänzer wirkt durch seinen Körper und dessen Bewegung ebenso wie der Maler durch die Farben und Linien, ebenso wie der Bildhauer durch die Form im Steine seine Wirkung erzielt. Es fragt sich nun, welches ist das Material des Tänzers, das lebendige Substrat seiner Kunst, so wie die gesehene Natur das Material des bildenden Künstlers ist? Dies Material ist, scheint mir, der ganze ungeheure Reichtum der natürlichen Bewegungen des Menschen. Diese lassen sich in zwei Gruppen teilen: in die Zweckbewegungen, wie Laufen, Fassen, Tragen usw., in die Ausdrucksbewegungen, die ein Seelisches durch die Gebärde unmittelbar versinnlichen. Hierher rechne ich auch die ruhigen Stellungen des Körpers, die gleichsam eine erstarrte Bewegung sind, und die für den Tanz eine ganz besondere Bedeutung haben. Dieses Material setzt der Tänzer in eine darstellende Kunst um, indem er eine bestimmte in sich geschlossene Folge von Bewegungen bildet und diese als eine Folge von Bildern für den Zuschauer sichtbar macht. So entsteht ein mimischer Tanz, dessen Einheit aus der inneren Einheit des Themas gewonnen wird: dies ist vorzüglich der Tanz der Griechen. Es scheint mir, dass er die Basis jedes wahren Kunst-Tanzes ist.
Mit der Musik, die den Tanz begleitet, ergibt sich nun aber ein neues Moment. Die Konstruktion des Tanzes wird abstrakt, der Rhythmus ist sein Gesetz und die Gebärde wird dekorativ – bei einem Tanz nämlich, der nichts anderes sein will als der körperliche Ausdruck der Musik. Es scheint mir aber, dass damit eine verhängnisvolle Verarmung des Tanzes eintritt und dass ihm so sein natürlicher Boden entzogen wird. Es handelt sich heute darum, den natürlichen Inhalt des Tanzes, d.h. die ganze Fülle der Bewegungen, zurückzugewinnen, aus ihnen aber, indem das rhythmische Gesetz der Musik als ein zweites Bestimmendes hinzutritt, eine neue Kunstform des Tanzes zu schaffen. Wir stehen erst am Anfang dieser Bestrebungen, ich glaube aber, dass sie allein eine Zukunft haben, eine um so grössere, je grösser die Klarheit der leitenden Einsicht, je vollkommener die Beherrschtheit des ausführenden Körpers sein wird. In einer Zeit, die aus der Verwirrung erst zur Einfachheit und zur Notwendigkeit zurückstrebt, findet das Gefühl allein nur selten den Weg.

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