zurück

Friedrich Markus Huebner

Alexander Sacharoff (1914)1

Das interesselose Wohlgefallen an Werken der Kunst (siehe Kant) ist vielleicht gültig als höchster und schon in die reine Unio mystika leitender Imperativ, aber unzutreffend jedenfalls als Erfahrungstatsache. Das Genießen steht ganz parallel zum Handeln. Es ist belebt von Tätigkeiten, von Entfesselungen, von Steigerungen verneinenden, bejahenden, erobernden, erliegenden Lebensgefühls. Im Genießen wird der zum Schaffen Untaugliche im vollen und originalen Sinne produktiv. Das Anschauen einer griechischen Ringkämpferstatue oder das Lesen einer Elegie Goethes bedeutet für den Empfangenden einen Zuwachs von Welt, eine Erweiterung und Übertreffung seines gewöhnlichen Ichzustandes, eine selbst physische Erregung, wie sie so souverän und unmoralisch und ungebunden das praktische Aktivsein selten auslöst.

Den Tanz anlangend, so bringt er, wie nicht eine zweite Kunst, beim Zuschauer sonderlich die Wallungen, Appetite, Charaktertendenzen in Schwingung, die sich noch nicht sublimiert haben zu Ausdrücken des Macht- oder des Erkenntnis- oder des Gestaltungsbedürfnisses, sondern die als das ganz und gar Primäre in jedem Körper zu all diesen Sekundären existieren: die Verhaltungsweisen des Geschlechts. Der Tänzer, auch der sakrale, der turnerische, der akrobatische interpretiert allemal Posen und Formen geschlechtlichen Grundakkords. Tanzauftritte besuchen heißt, sich dem Geschlecht gegenüberzustellen, das Geschlecht in seinen Maskierungen, seiner Üppigkeit, seiner Gefahr auf sich ausströmen zu lassen und selber, imaginativ, Abenteuer über Abenteuer mit sich ausmachen.

Ein gefüllter Saal, vor dem Alexander Sacharoff sich produziert, ist ein Feld sonderbarster und brenzlicher Fluida. Es ist anders als bei Aufführungen der Frau I.Duncan, der Mädchen Wiesenthal, der erlesenen Buhle Ruth St.Denis. Das erotische Flimmern in den Körpern, in den Seelen geht in diesen zuletzt genannten Fällen strikte und einheitlich zusammen. Die Atmosphäre ist verständlich. Die Frauen und die Männer auf ihren Sitzen fühlen sich verbunden durch den sympathetischen und großen Kreisfluß verwandter, einträchtiger, nicht weiter auf Worte angewiesener Traumwünsche. Und nach Schluß ist das Glück des Erlebnisses ohne Unterschied, ohne Ratlosigkeit; es wohnt in jedem gesammelt als Sucht nach einer letzten, ach mit irgendwem möglichen Umarmung und Entschüttung.

Die seelischen Ströme im Saale, wo Sacharoff auftritt, züngeln wirr und über kreuz. Von einem Gesamtgefühle, in dem die große erotische Einigung potentiell sich ereignete, ist keine Rede. Positive und negative Elektrizitäten mache sich den Raum streitig, benagen einander, erzielen kein Gleichgewicht. Die Wünsche sind zugleich stark und krank. Aber sie sozialisieren sich nicht; in allen erhebt sich Einzelnes, Antisoziales, Ängstliches und Argwöhnisches. Und was man mit heimnimmt, sieht sehr viel anders aus als die primitive und rasch bezeichenbare Erhobenheit nach einem Auftreten von G.Leistikows rassigem, aufforderndem Frauenkörper. Ist es wie Mißtrauen gegen das andere Geschlecht, ist es wie Furcht vor sich selber, ist es der Wille, statt sich wegzuschenken, lieber einsam zu bleiben mit seinem verborgenem, vergessenen, abgespaltenen Doppelgeschlechtsgefühle?

Sacharoff verwirrt. Er verwirrt uns Heutige. Der antike Mensch hätte das Panische der Erotik in seinem Tanzausdruck wahrscheinlich mit wissendem Kopfnicken gegrüßt. Heute ist dieses Wissen erstickt. Nicht durch andersartige Moralgesetze, sondern durch Vorgänge weit heimlicherer, die Vitalität selber angehender Natur. Die Zivilisierung der Sitten ist nur erst Spiegelung einer Zivilisierung der Instinkte. Sie verdünnten sich. Sie bekamen Angst vor sich selber. Sie übersahen sich nicht mehr. Das eine mußte verdrängt werden, damit das andere, notdürftig genug, weiter existieren konnte. Was den Prozeß gemacht erhielt, war das vegetative Tiersein. Die Neigung zur Dämonie der Hingabelust. Die Naivität des großen und bachantischen Geschlechtstaumels. Man wurde zurückhaltend und korrekt. Man stabilierte [sic] als Norm den würdehaften, der Pflicht, der Arbeit zugewidmeten "Charakter".

Sacharoff lockert diese Norm. Er öffnet die Schleusentore des Anarchischen. Er stellt dar und glorifiziert das "Charakterlose". Er erreicht damit, wenn man so sagen will, das Ethos an sich des Tänzers. Er ist in unseren Tagen die einzig konsequente, mutvolle, vorbildliche Inkarnierung des Typs.

Es ist gleichgültig, wie Sacharoff seine einzelne Programmnummer nennt. Es ist auch gleichgültig, an welche historischen Ideen er seine Gewandungen anähnelt. Zuletzt ist gleichgültig, die Musik welches Komponisten er als Teppich seines Schreitens, Beugens, Betens benutzt. Das immer wieder und vor allen Dingen Außerordentliche ist, daß die Zertrenntheit der Geschlechter, das Vasallensein des Mannes, des Weibes an ihren beziehentlichen Charakter, daß der Dualismus der Begehrungen in Sacharoff sich synthetisiert und nun zu einer einzigen, charakterologisch nicht mehr faßbaren Geste der zwiefach geschlechtlichen Nacktheit wird. Die Scham ist ins Lächerliche und Spießbürgerhafte verwiesen. Die Haltung der sexuellen Einmaligkeit ist abgeschüttelt. Die Statue des Ich ist zerbrochen, und aus allen Poren dieser hermaphroditischen Figur flackert der Ausdruck geglückter, erwünschter, gesteigerter Erlösung von der Enge des einsartigen Selbst.

Das Artistische und wie man weiß nur durch jahrelange Zucht Erlangbare bei Sacharoff ist dies, daß er wirklich die Erlösung und Verbrüderung der beiden Komponenten durchsetzt. Denkbar wäre ebenso gut ein Tänzer, der beide Temperamente zwar in sich trägt, sie aber nur bruchstückweise, einmal das eine, dann das andere zur Gebärde zuläßt. Oder wo der Kampf getanzt und symbolisiert würde, der Wille zur Übermacht, die zerstörerische Seite des Gottes. Sacharoff schließt den Zirkel. Und indem er die Harmonie erreicht, wird seine Kunst zu dem, was ihr viel schwerer fallen muß, als der normal-erotischen Kunst unserer weiblichen Kunsttänzer: Sie wird zum Symbol. Das Triebhafte verneint sich, ohne zwar seinen Geruch blühenden Blutes herzugeben. Frau und Mann spiegeln sich, umarmen sich, schließen Frieden in der Biegsamkeit dieser Figur, im rätselhaften Gesichtsprofil, in den Schritten und Drehungen der Schenkel. Man genießt, durch die Vermittlung dieser Linie mehr als nur den eigenen Sexualwunsch. Man genießt den anderen mit, den wir im Leben mit unserer Liebe verfolgen, den zu erkennen jedoch uns nie beschieden ist. Die Frau wird ratlos, weil sie von diesem Manne sich entschleiert sieht, und der Mann erschrickt, weil seine Finessen im Verführungsspiel alle unerbittlich reportiert werden. Aber statt verlegen oder nervös gemacht diesem Künstler zuzuapplaudieren, wäre es wohl angebrachter, ihm mit Ergriffenheit und Stille dafür zu danken, daß sich seinem [sic] Können einem so rücksichtslosen, unalltäglichen und extravaganten Künstler-Mut vereinigt.


1 Friedrich Markus Huebner: "Alexander Sacharoff", in: Phoebus. Monatsschrift für Ästhetik und Kritik des Theaters, 1.Jg., (München) 1914, H.3, S.101–104 (Abb. vor S.101, 117, 133).

nach oben