zurück

Hans Brandenburg

Clotilde von Derp (1913)1

Vor etwa zweieinhalb Jahren trat die Tänzerin Clotilde von Derp zum ersten Male auf. Sie mochte siebzehn Jahre alt sein und nahm so sehr durch den Reiz ihres zarten Alters und ihrer Erscheinung gefangen, daß man nicht dazu kam, über ihre Kunstmittel nachzudenken, sondern jede kritische Regung, noch bevor sie aufstieg, auf die Zukunft und die Entwicklung vertröstete. Was man bisher an Tanzkunst gesehen hatte, entsprang entweder der Theorie und dem Willen oder es war vereinzelte fertige Leistung. Hier aber sahen wir zum ersten Male auch im Tanze das, was uns auf anderen Kunstgebieten, etwa bei Zeichnungen oder Gedichten junger Menschen, so oft zu rühren vermag, nämlich ein Tasten und Suchen ganz aus der eigenen Natur heraus, ein Werden, das nach der Sprache der Kunst drängt, um uns in seine geheimnisvolle Werkstatt blicken zu lassen, etwas Unfertiges, das in einer reinen Notwendigkeit, in einem sich vollziehenden Gesetz doch fertig, rund und abgeschlossen sein mußte. Darum war etwas um dieses Mädchen, das, wenn es gewollt ist, so sehr verletzt, nämlich "Stimmung", und so mißtrauisch wir sonst mit Recht gegen eine poetische Kritik sind – diese Stimmung zwang geradezu, dichterisch gedeutet zu werden. "Wohl wird der Sprung gewagt mitten in die Luft", so schilderte Rudolf von Delius damals in einem kleinen Aufsatz ihren Tanz, "aber sofort hemmt eine Bangigkeit: die schwere Herbe des jungen Blutes, Unmut gärenden Frühlings. Und dicht daneben Bewußtheit, Überreife der Gedankentriebe. . . . Da ist noch so eckig und zerbrochen das Leid, noch so unreif bitter der Schmerz des Sturmes, noch so abstrakt kindlich die Sehnsucht, und nur schamhaft wie im Traum regt sich Süßigkeit der Liebe. . . . Selbstbewußt und doch fröstelnd steht so das Bäumchen im bleichen Licht. ..."

Dann kam eine Zeit, wo es schwer wurde, das Entzücken über Clotilde von Derp mit einer ernsten Liebe zum Tanz als Kunst zu vereinbaren, wo das Bedürfnis nach Technik und Form, das durch manches strenge, zielsichere Streben Nahrung erhielt, den noch so holden Reiz des Augenblicks verschmähte. Neue Methoden der lange vernachlässigten gymnastischen Erziehung schärften unser Auge für die Beherrschung des Körpers, selbst das Ballett vermochte trotz seiner überlebten inhaltlosen Unnatur wenigstens als Schulung vorübergehend neu zu imponieren, Elizabeth Duncan lehrte uns, wie ein beseeltes Gehen und Laufen für die heutige Menschheit eine verlorene Kunst bedeutet, und Jaques-Dalcroze stellte alle Fragen über das Verhältnis zwischen Musik und Körperbewegung zur praktischen Diskussion. Als bloßer Kritiker mußte man, wofern man es ernst nahm, dazu kommen, selber rhythmische Gymnastik zu treiben, um die Tragweite dieser Dinge praktisch zu erproben, um das Geheimnis des Rhythmus am eigenen Leibe kennen zu lernen und zu seiner Ergründung nicht ausschließlich den unsicheren Weg passiver Beobachtung einzuschlagen. Unterdessen feierte Clotilde von Derp Triumphe, die sie nicht durch wahres Verdienst errungen hatte. Reinhardt engagierte sie auf Monate nach London für die dortigen Aufführungen von Sumurûn, in der richtigen Berechnung, daß die spröde und reine Unreife eines überschlanken Mädchens dem Weltstadtpublikum eine Feinschmeckerei sein müßte. Als wir sie in München wiedersahen, hatte sie ihr Können nicht vergrößert, aber das, was ihr früher eigen war, in eine gewisse Routine verwandelt und ihm sogar einige Rampengebärden und Kulissenblicke von unechter Leidenschaft hinzugefügt. Man konnte dies freilich als eine vorübergehende schlechte Angewohnheit betrachten, die ihr vom Theater angeflogen war und die sie in der Tat schon bald zu überwinden anfing, man konnte überhaupt auf ihre gesunde Natur vertrauen, die trotz des Reklamegeschreis englischer illustrierter Journale sich unter den abwechselnden heißen und kalten Sturzbädern der Kritik schon gehörig in sich selber festigen würde, aber bedenkliche Folgen schien der frühzeitige Erfolg doch gehabt zu haben. Sie wollte nicht mehr recht lernen, und man hätte ihr so sehr gewünscht, daß sie gerade eine kraß urteilende Sachverständigkeit überall geflissentlich aufgesucht hätte, denn der Künstler des Tanzes, der im Gegensatz zu allen anderen den Segen der Tradition entbehrt, müßte jede Art von Schulung und Methode, von Theorie und Urteil, von Problemstellung und Technik, von menschlicher und künstlerischer Auseinandersetzung leidenschaftlich ergreifen, um den Mangel eines gesicherten Herkommens, einer ererbten Sprache, eines festgesetzten Handwerks so gut wie möglich zu ersetzen.

Heute ist nun Clotilde das, was sie sein kann, wirklich ganz. Damit will ich nicht sagen, ihre Entwicklung sei abgeschlossen und sie könne einiges von dem, was an ihr zu tadeln ist, nicht noch besser machen. Aber ein Teil dieses Tadels hört auf, eine Aufforderung zum Bessermachen und somit Tadel zu sein, er ist nur noch ein Mittel, ihre Grenzen zu bestimmen, ihr Wesen und ihre Kunst zu charakterisieren.

Der Wert ihrer äußeren Erscheinung – und die äußere Erscheinung ist ein Wert für eine solche Tänzerin wie sie – ist jetzt gesichert; so weit sie noch etwas Sprödes und Herbes besitzt, ist es ein dauernder Bestandteil ihrer Natur und vermehrt die Süßigkeit der ersten Reife. Sie ist rundlicher und muskulöser geworden, ohne den frühlingshaften Ausdruck schmächtiger Kantigkeit, der namentlich in ihren Armen liegt, zu verlieren. Der Kopf harmoniert vollkommen mit dem Körper: das anmutige Oval des Gesichtes, die schräg geschnittenen, halbgeschlossenen Augen, die niedrige Stirn und das schwarze, glänzende, ganz glatt gescheitelte, hinten in Zöpfen aufgesteckte Haar. Und was ihre Kostüme betrifft, so ist sie auf dem von Anfang an eingeschlagenen Wege fortgeschritten. Sie erfreute nämlich gleich bei ihrem ersten Auftreten durch den schönen frohen Mut, modern zu sein, alle historischen und programmatischen Tendenzen zu vermeiden. Mit sicherem Instinkt widerstand sie der Lockung, welcher pantomimische Talente folgen müssen, ihre Kostüme einer dramatischen Verwandlungskunst dienstbar zu machen, in ihnen als in Masken Gegensätze ihres Wesens herauszuarbeiten und zu objektivieren. Da ihr solche Gegensätze fremd sind, wird ihr das Kostüm ein rein lyrisches Mittel zum Ausdruck ihrer rein lyrischen Natur, bestimmt, ihren Körper zu zeigen, indem es ihn leicht und schmückend verhüllt, im Wechsel die immergleiche verleiblichte Seele zu offenbaren, je nach der Musik, dem Bewegungscharakter, der Gefühlsnuance eines Tanzes oder mehrerer Tänze. Dabei entwickelt sie viel Geschmack und Phantasie. Sie wählt immer leichte Stoffe, die bald einfarbig, bald mehr oder weniger stark gemustert sind, bald sich dem Körper anschmiegen, bald ihn locker umfließen, bald bis fast zu den nackten Füßen herabreichen, bald die Beine freilassen, ein kurzes, im Wirbel abstehendes Röckchen bilden oder ein bauschiges Höschen oder eine halb knaben-, halb mädchenhafte Vereinigung von Hose und Rock. Oft läßt sie Arme und Schultern frei, oft schimmern sie durch parallele Stege, oft wirkt die Farbe durch ihre Enthaltsamkeit, oft durch ihre partielle oder durchgehende Pracht.

Ihre Tanzbewegungen, um endlich auf das Wichtigste zu kommen, sind nicht eben reich an Zahl, und sie stehen in einem merkwürdigen Verhältnis zur Musik. Sie "realisieren" keineswegs alle hörbaren Rhythmen durch sichtbare, sie unterschlagen viele Takte und Taktteile, sie lassen oft den Anfang eines Musikstückes ungenutzt vorübergehen oder sie verpassen mit einer gewissen Ratlosigkeit ein neues Thema, um die Wiederholung des ersten Motives abzuwarten, überhaupt bilden die räumlichen Bewegungen kein rhythmisch exaktes, durch Mitgehen oder Entgegenschreiten, durch Parallelisierungen und Überschneidungen geregeltes Bündnis mit den klanglichen Bewegungen des Orchesters. Und doch sind Clotildes Tänze musikalisch, weil sie viel Gefühlsrhythmus haben, weil sie die Musik mit dem Gemüte erfassen. Prüft man nun ihre Tanzbewegungen nicht an den Gesetzen der Musik, sondern an denen des Körpers, so vermißt man gleichfalls sehr oft das Organische. Ihr Ablauf ist keine geschlossene Linie, die auch dort, wo sie Pausen macht, keine Lücken bildet, die Einzelbewegung steht nicht immer in der rechten Proportion zum ganzen Tanze, zum ganzen Körper und zum durchmessenen Raum, auch vermag die Tänzerin eine langsame Bewegung nicht bruchlos etwa von der Schulter durch die Muskulatur des ganzen Armes bis in die Finger fließen zu lassen, weil sie Innervationen und Entspannungen, die richtige Verteilung des Kräfteverbrauchs nicht genügend kennt, so daß sie von einer Pose in die andere durch einen Ruck überleitet, auch da, wo der Rhythmus eine allmähliche, sukzessive Motivierung verlangt, abgesehen davon, daß ihr jene letzte Ganzheit des Körpergefühls, das vom Scheitel bis in die Fußspitze ein einziges, durchgängiges Fluidum ist, in der langsamen Bewegung abgeht. Ferner fehlen ihren Tänzen in formaler Hinsicht oft Steigerungen und Übergänge. Und doch ist eine Poesie des Ausdruckes in diesem scheinbar Unorganischen, Zerstückten, Abgerissenen, Improvisierten, selbst dort, wo schon leichte Manier waltet, wo die Bewegung bloß in einem gewissen larmoyanten Räkeln der langgeschossenen Glieder besteht und das Gesicht sich zurücklegt, weniger mit dem Ausdruck des Empfindens, als des Sichempfindens. Unsere ganze Tanzkunst besteht ja aber erst aus Ansätzen, und nur eine Synthese aller heutigen Versuche möchte uns oft als Erfüllung erscheinen. Clotilde gibt zu dieser Ahnung einer Synthese einen sehr reichen Beitrag. Was bei ihr Dilettantismus ist, enthält doch irgendwo eine überwältigende Anschauung von Ganzheit, einen Zug zur Vollkommenheit, weil seelischer Zwang es hervortrieb. Oft wird sie von einem Gefühl ergriffen, aber sie kann es nicht entwickeln, darum hält sie es in der Hand, betrachtet es, spinnt es vage und reflektierend in ein anderes über oder wirft es weg, um sich einer neuen Regung zu überlassen oder nach einem Unbekannten zu suchen. Da empfinden wir das kleine Mädchen als eine Persönlichkeit, und zwar als eine Persönlichkeit unserer Zeit, aber ihr Zauber beruht darin, daß sich das Modern-Intellektuelle, die Sehnsucht nach Hingabe, die immer wieder zu sich selbst zurückkehrt, in echte Jungfräulichkeit einhüllt, in Scheu und Trotz, in den bangen und adligen, trüben und lockend-frohlockenden Gesang des Blutes.

Wenn sie zu "schwerer" Musik die thematische Kraft nicht findet, so reicht ihr Gestaltungsvermögen doch aus zu leichten, schnell bewegten, stark rhythmisierten Stücken wie Rubinsteins Polka, Griegs Bauerntanz, Schuberts Moment musical, Eisners Walzer, Moszkowskis Walzer in A-Dur und Krugs Maientanz. Ihre Füße, welche die Statik des Körpers nicht immer genügend zu sichern scheinen, geben ihm beim getragenen Tempo leicht zu wenig Balance, aber sie erfreuen beim Stampfen, Springen, Hüpfen, Drehen und Sichwenden, ebenso Hals und Kopf bei ihren verschiedenen Lagen, der Rumpf durch seine Schmiegsamkeit und die Arme durch Werfen, Einstemmen, eckige Führungen und herbes Abbiegen im Gelenk. Diese Bewegungen ranken schnell und sicher am klaren Aufbau der Musik, und es liegt in ihnen ein Jubel, der auch im stärksten Wellenschlag noch eine dämpfende Hülle von holder Anmut trägt und durch eine wissende Kindlichkeit frei und feierlich-heiter stimmt.

In der unbefriedigenden Übergangszeit dieser Tänzerin konnte man meinen, hier sei zu seinem Schaden ein scheuer Reiz durch eine Mode vor die Öffentlichkeit gezerrt, der sich im Leben außerhalb der Kunst viel besser und ohne Trübung offenbaren würde. Aber Clotilde von Derp hat gezeigt, daß zwar nicht ein großes äußeres Temperament, aber doch eine tiefe Leidenschaftlichkeit des Gemüts sie zum Tanze zwang als zu einer Selbstoffenbarung, in der sie sich verschenkt, ohne doch ihre schamhafte Unberührtheit zu verlieren. Ihre Seele steht jetzt wieder in dem unnahbaren Lichte einer ganz eigenen Welt. Es gibt Tänzer, die alle Mängel ihrer Erscheinung durch die Größe ihrer Kunst vergessen machen, ja, denen vielleicht eben diese Mängel ein Stachel zu erhöhten Leistungen sind. Die Erfolge Clotildes finden sicher zum Teil ihre Erleichterung, selbst ihre Erklärung in ihrer äußeren Anmut. Aber auch der Zuschauer, den einzig diese Anmut fesselt, erliegt unbewußt den Wirkungen einer Persönlichkeit. Sosehr hat sie den angeborenen Reiz ihrer Erscheinung zum persönlichen Verdienst erhoben. Oder ist es vielleicht doch ein Unpersönliches, Unbewußtes, das, wenn auch manchmal durch Bewußtheit und Eitelkeit gefährdet, bei ihr am meisten rührt? Ist es eine in ihr verkörperte Vision, als ob aus dem Kampf und Werden der heutigen Frau, mag man ihre Ziele nun Umkehr oder Neubildung nennen, vom Lärm der Tendenzen plötzlich nicht mehr umhüllt, Psyche selbst herausträte?


1 Hans Brandenburg: Der moderne Tanz. München 1913, S.99–103.

nach oben